Gastbeitrag von Jörg Thoß: 6 Stunden irgendwo im Nirgendwo – Ich fahre gerne mit der Bahn

on August 26 | in 6 Gastbeiträge, 9 Beiträge, Ideen, Träumereien | by | with No Comments

Ich bin kein Freelancer. Aber die Jahre an Kunden verkaufter Stunden von mir und ein durchaus bewegtes Reiseleben geben mir dieses Gefühl, welches auch befreundete Freelancer bestätigen. Und tagwerks “NiewiederZettelwirtschaft”-Idee kommt mir auch absolut vertraut vor.

Ich wollte einfach mal was über Bahndienstreisen aufschreiben. Heute kann sich ja so ziemlich jeder zu jeder Gelegenheit perfekt und außerdem multimedial über die Bahn aufregen. Ich fahre gern mit der Bahn. Zuerst mit der Deutschen Reichsbahn, dann mit der Bundesbahn und nun meist mit der Deutschen Bahn. Und mit U-Bahnen, S-Bahnen, Metros, Straßenbahnen, Hängebahnen, Standseilbahnen sowie Einschienenbahnen. Zwischendurch auch mal mit den Österreichischen Bundesbahnen, den Schweizerischen Bundesbahnen, Société nationale des chemins de fer français, First Great Western, České dráhy usw. Dazu gehören für mich über die letzten Jahre ziemlich genau 2 Bahnfernreisen pro Monat.

Ich fahre gerne Bahn.

Wenn ich mir überlege, was genau ich in der Bahn alles anstelle, dann ist das schon fast ein wenig wie Wohnen in der Bahn. Aber nur ein wenig. Ich gehe oft erst in letzter Minute zum Bahnhof – um mich dann erst im Zug zu rasieren, den gelegentlich vorgesehenen Schlips umzubinden und in Ruhe zu frühstücken. Es gibt Zeit zum Telefonieren mit meiner Familie, Freunden, Kollegen und Kunden. Die ersten Jahre im ICE konnte ich mühelos über längere Strecken schlafen. Heute geht das nicht mehr so gut. Mehr Ablenkung, mehr Laptop & Handy, mehr Mitfahrer und vermutlich auch mehr mehrsprachige Durchsagen. Für mich sind neue Routen tagsüber einfach schön anzuschauen, so etwas wie Landschaftsfernsehen. Dazu gehört auch dieses kurze Hochgefühl beim Überholen der teuren Flitzer auf der A3 bei der ICE-Fahrt zwischen Frankfurt und Köln. Irgendwie bin ich auch froh, dass mich bisher die Unfälle, Klimaanlagenausfälle und wirklich enorme Verspätungen nicht erwischt haben.

Natürlich gibt es immer wieder ganz unterschiedliche Vorfälle, Störungen, Verspätungen. Ich bin inzwischen der festen Überzeugung, dass unabhängig vom wirklichen Vorkommnis eine Liste wohl abgewogener Ausreden existiert. Das sind gut verständliche, zumeist nicht schnell nachprüfbare, kaum angreifbare, einfach auswendig lernbare, auch bei lauten Umgebungsgeräuschen gut aufnehmbare Aussagen. Wer es genauer wissen möchte, sollte einfach mal „Bahn“ und „Ausreden“ googlen. Meine Top 5 sind „Störung im Betriebsablauf“, „Gleisbelegung im Bahnhof“, „Weichenstörung“, „Vorbeifahrt eines ICE“ und leider auch „Notarzteinsatz im Gleis“.

Meistens fühle ich mich recht wohl und auch sicher in der Bahn. Um Mitternacht mit der Metro quer durch New York ist zwar etwas seltsam – aber irgendwie gut bewacht. Da war mir im Regionalexpress von Lindau nach Dornbirn mit besoffenen streitenden Leuten schon wesentlich unwohler

In meiner Studienzeit bin ich nicht nur einmal im Hochsommer 15 Stunden quer durch Tschechien gefahren. Da bleibt so ein Zug auch einfach 6 Stunden irgendwo im Nirgendwo stehen. Wir konnten aussteigen und umherlaufen. Dann wieder im Zug sah man, wie Zurückhaltung, Hüllen und Niveau rapide abfielen. Am Ende saßen wir in unseren Badehosen auf unseren Handtüchern. Aber immerhin auf den Sitzen. Die Pfiffigeren unter den Nichtplatzkarteninhabern hatten sich bekannte großformatige Zeitungen gekauft und lagen halt darauf. Heute werden wir schon unruhig, wenn die genormt wohnliche Kabinentemperatur um ganze Grade verfehlt wird.

Zum Bahnfahren gehören für mich auf jeden Fall auch die kleinen und nicht so kleinen Erlebnisse mit den anderen Herrschaften im Zug. Ich vermisse jetzt schon die vielen gemeinsamen Bahnfahrten mit meinen Ex-Kollegen – manche jetzt Freunde.

Es gibt ja diesen Geheimcode zur Unterhaltung im Zug. Sei es nun am Telefon oder mit anderen wissenden Mitfahrern. Auf einer Nachhausefahrt von einem ach so wichtigen Kundentermin saß ich mit zwei Wissenden und einem Fremdling an so einem ICE-Vierertisch. Peinlichst jeden Kunden- und Mitarbeiternamen vermeidend haben wir das Treffen ausgewertet. Bis sich der Fremdling ganz locker in unser Gespräch eingeschaltet hat: „Ah Sie sind doch von der Firma O. Ich hätte da mal ein paar Fragen.“ Tarnung aufgeflogen! Es stellte sich heraus, dass es Herr Z, einer unser Geschäftspartner war. Eine Woche später fuhr ich mit dem gleichen Zug und hatte eine Reservierung für den gleichen Platz. Prompt saß auch wieder Herr Z neben mir. Diesen Zufall habeichsogleichTwitteranvertraut. Mit dem Ergebnis, dass meine Kollegen mich noch über Wochen hinweg nach Herrn Z gefragt haben und mir sein gelegentliches Auftauchen an anderen Plätzen getwittert haben.

Trotz verschärfter Bestückung mit Steckdosen und dem daraus resultierenden exzessiven Gebrauch jeglicher elektronischer Geräte kann man sich im Zug auch immer noch mit Menschen unterhalten. Das mache ich total gern. Wenn auch nicht sehr oft.

Zum Beispiel mit der netten Schauspielerin vom GalliTheater– für mich hieß das: Laptop zu, dringende eMails vergessen und Zuhören. Ich muss zu diesem Galli-Theater mal hingehen – habe schon fast ein schlechtes Gewissen.

Oder dieser Windows-begeisterte Freelancer. Während meiner Suppe mit dazu gewähltem 0,5l Kaltgetränk durchlebte ich mehrere Installationszyklen mit ihm. Wir erreichten das rettende Mannheim, bevor meine Ohren bluteten.

Oder die resolute ältere Dame auf ihrer einzigen Bahnfahrt des Jahres. Sie wollte mir in erzieherischem Tonfall den korrekten Platz für meinen Koffer anweisen. Da lag mein Koffer aber bereits ganz gut an anderer Stelle. Die nächsten 15 Minuten sprach sie mit wachsender Lautstärke und Unverschämtheit in 3. Person von meiner Kofferplatzierungsverfehlung. Das Bild, wie ihr nach meiner Antwort der Mund offen stehen blieb, wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Jedenfalls war danach das Thema Kofferplatzierung fertig.

Lange Zeit konnte ich besonders freundliches Bahnpersonal am Akzent erkennen: „Guden Tag. Ihre Fahrgarde bidde“ – womöglich hat die Bahn ja ganz gezielt die für ihre Freundlichkeit bekannten Sachsen rekrutiert? Oder war es für die Bahn doch nur das niedrigere Lohnniveau bzw. der durch Arbeitslosigkeit höhere Arbeitswillen? Bisher war das einfach nicht herauszufinden. Für alle Sächsisch-Anfänger zum Nachlesen macht www.parallelnetz.de Websites Sächsisch: bahn.de.saxophone.parallelnetz.de finde ich einfach gut gelungen (z.B. Schdardseide, Sörwiss und Agduelle Dibbs).

Schon vor einiger Zeit habe ich mal darüber nachgedacht, was man alles für Unterwegs 2.0 braucht: www.slideshare.net/jthos/unterwegs-2-0. Auch mit der Bahn ist es sogar in GSM-strukturschwachen Gebieten einfach, aktuelle Infos zu seinem Zug zu bekommen: m.bahn.de. Und für die besonders interaktiven Mitmenschen hat die Bahn seit dem 08.06.2011 sogar einen eigenen Twitter-Kundenservice-Account in Betrieb genommen: www.twitter.com/DB_Bahnhat mein Fahrkartenproblem bereits nach 7 Minuten gelöst.

Wie schon gesagt: Ich fahre gern mit der Bahn!

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