Betaphase oder Betthase?
Das Leben ist heutzutage zu einer permanenten Betaphase geworden. Niemand will mehr so richtig erwachsen werden. Nicht so wie früher, in der so genannten „guten alten Zeit“, wo man spätestens mit 20 seine erste Ehe, sein erstes Kind und seine erste feste Stelle in einem großen Industriebetrieb oder eine kuschelige Behörde angetreten hatte, die man die nächsten 40 Jahre nicht zu wechseln gedachte. So konnte man also fortan problemlos als „erwachsen“ gelten. Dann lebte man so sein Leben 1.0 vor sich, erlebte zwischendurch ein paar Updates (von Floppy-Disk, nicht automatisch aus dem Internet runtergeladen!), Vers. 1.1: das zweite Kind, Vers. 1.2. die Beförderung, Vers. 1.3. die erste Affäre, Vers. 1.4 die erste Scheidung, Vers. 1.5. die zweite Ehe usw. Mit 65 wechselte man dann in den wohlverdienten Ruhestand mit fetten Rentenbezügen und erfreute sich seines Lebens 2.0. Well, those times are probably gone forever (Zappa). Und heute? Viele kommen gar nicht erst über die Alphaphase hinaus (Bildungsverlierer), und die meisten stecken bis zur Rente, die sie aber nicht bekommen werden, weil sie entweder nicht genug eingezahlt haben (Freelancer) oder die Inflation alles weggefressen hat (der Rest), in einer lebenslangen Betaphase fest. Überlange Ausbildungszeiten, bis ins Unendliche verlängerte Postadoleszenzen, Retromania, permanentes Jobhoppping, Patchworkfamilien, der Zwang zu lebenslangen Lernen, Selbstverwirklichung in Schwitzhütten, Coachingseminaren und auf Wellnessfarmen, all das und noch viel mehr hindert den modernen westlichen Menschen (woanders ist das sicher anders) am ordentlichen Erwachsenwerden alten Stils.
Leben wird zu einer Dauerbaustelle des Selbst. Immer noch ist irgendwo ein Bug, der gefixt werden muss, immer noch eine Optimierungsmöglichkeit, die nicht voll ausgeschöpft wurde. Aber dann, wenn dann alles zu Ende optimiert und gefixt ist, dann wird man sicherlich endlich, endlich eine Version 1.0 herausbringen, ganz bestimmt, die Pressemitteilung ist schon in Vorbereitung… Doch dann kommt erst mal der Burn-out, getrieben von Selbstoptimierungswahn und Version 1.0-Angst, und man wird in die Vor-Alpha-Phase zurückgeworfen und muss an seinem Relaunch arbeiten. Die wachsende Ver-beta-isierung des Internets ist da vielleicht ein Symptom des allgegenwärtigen Beta-Lebenstils. Aber, wer weiß, vielleicht ist ja Beta auch die neue 1.0? Auf jeden Fall macht die Autokorrektur meines Textprogramms aus „Betaphase“ kommentarlos einen „Betthasen“. Wahrscheinlich eine Betaversion (MAC). So wie dieser Text.
Übrigens: Die Public Beta Phase von tagwerk endet Ende Januar. Wer sich jetzt noch anmeldet, kann 3 Monate kostenfrei testen. HIER ANMELDEN ZUM TESTEN.
» 6 Gastbeiträge, 9 Beiträge, Ideen, Träumereien » Beta ist die neue 1.0
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